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28. Dezember 2013: Nest, Wolkenheim und Ei. – Hans-Dieter Schütt schreibt über den »Kuckuck!« Im Neuen Deutschland

28. Dezember 2013 Die Erde betrachten, als sei sie der Mond.
Hans-Dieter Schütt schreibt über den »Kuckuck!« Im Neuen Deutschland

(...) In Paris gab es einmal einen Kritiker, Félix Fénéon, er war der erste französische Verleger von James Joyce – dieser Mann liebte die vermischten Nachrichten so sehr, dass er 1906 eine Pariser Tageszeitung mit insgesamt über eintausend ebenso frei erfundenen wie unabweisbar glaubwürdigen Schreckensnachrichten belieferte. Eine jede Nachricht exakt drei Zeilen lang: »Nouvelles en trois lignes«. Alles in dieser Art: »Herr Scheid aus Dünkirchen schoss dreimal auf seine Frau. Da er sie jedes mal verfehlte, nahm er die Schwiegermutter ins Visier: Treffer.« (Eig. Ber.). »Eine Zeitung«, schrieb der Franzose, »muss den Schrecken der Nacht zur Sucht machen, mit so was den Frühstückstisch zu bereichern.«
Das ist die paradox blöde Seele des Geschäfts: Was abstößt, muss auch gefallen. Ein Kabarett darf nur immer so böse sein, dass sein Publikum nicht fortläuft. Und die Zeitung soll aufregen, ohne ihre Bezieher in die Flucht zu schlagen. Aber Zeitung soll sie doch bleiben, und eine Zeitung ist Abbild und Steigerung: dass ihr was auffällt an der Realität, muss dazu führen, dass ihr was einfällt - um in aller Ehrlichkeit nicht langweilig zu sein. Lebensstoffs Transformation in den Lesestoff. Findung und Erfindung. Zauleck ist da ein heiterer Lehrer. Nur das Existenzielle zählt? Was ebenso zählt, ist das gut Erzählte.
Besagter Fénéon wurde mit seinen Minidramen übrigens populärer als mit all seinen anderen editorischen Mühen. Also: Wer weiß, ob Kleist nicht doch ein glücklicher Mensch geworden wäre, wenn sich seine »Berliner Abendblätter« als eine erfolgreiche Zeitungsgründung erwiesen hätten. Der Dichter leidet an der Welt, weil sie nie anders wird, als sie ist. Die Welt leidet am Journalisten, weil sie in den Zeitungen immer anders aussieht, als sie ist. Deshalb wird eine Zeitung erst wirklich gut, wenn sie nicht mehr nur wichtig sein muss, sondern von gestern sein darf. Wenn sie sich zum Stigma der bevorstehenden Makulatur, zum Gilb, kurz: zum Schicksal des Vergessens bekennen darf. Goethe zum Beispiel empfand das tägliche Zeitungsstudium als störend. Er ließ sein Hausblatt, die »Allgemeine Zeitung« aus dem Cotta-Verlag in Augsburg, binden und las dann den Jahres- oder Halbjahresband. Abstand als Kultur. Distanz als Praxis, alles Bedrängende ins Fremde zu rücken. Die Erde betrachten, als sei sie der Mond. (...) Fern der unmittelbaren Erregung, die einst zu Schlagzeilen, Fotos, Texten führte, macht es Spaß, die Bestandteile einer Zeitung herüber zu holen in unvorhergesehene Zusammenhänge. Das Zimmer sei voller alter Schnipsel, der Kopf voller neuer Nachrichten. Sagt Zauleck. »Bevor ich Schnipsel wegwerfe, lege ich sie auf die Nachrichten.« Und siehe da: Alte Reizwörter, einstige typo- und fotografische Signale sorgsam abgelegter Journale leben fabelhaft vor, was der klassische Plakative Willy Brandt in den Layout-Lehrsatz kleidete: Ein Schnitt mit der Schere, ein Schwenk des Klebestiftes, »und es wächst zusammen, was so überhaupt nicht zusammengehört«. Oder eben doch.

(Einen Überblick über sämtliche Ausgaben des Kuckuck! finden Sie auf der Kuckuck-Homepage http://kuckuckuck.tumblr.com/)

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