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4. September 2009: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst - Für Jana Dörfelt

Eines schönen Tages wurde eine junge Illustratorin vom Blitz getroffen. Das Oberstübchen brannte lichterloh. Das Feuer erreichte in Windeseile die Herzkammer. Die Zeichnerin Jana Dörfelt, Jahrgang 1982, war zum Zeitpunkt des Einschlags auf der Suche nach einem würdigen Gegenstand für ihre Diplomarbeit. Sie suchte Orientierung und Herausforderung im Ozean der Möglichkeiten und kam unverhofft in dieses Gewitter, das ihrem künstlerischen Leben eine Wendung brachte.
Der Blitz, von dem die Rede ist, heißt Artmann. Artmann ist ein Dichter und Magier, ein Gaukler und Träumer und Snob und immer noch ein Geheimtipp. Die Mitglieder der Artmann-Gemeinde – Jana Dörfelt gehört seit jenem Tag dazu – zwinkern sich geheimbündlerisch zu und genießen die exklusive Kennerschaft. Einige von ihnen nennen sich im ernsthaften Scherz selber „Artmann“, die Damen wählen sogar das feministisch korrekte „Artfrau“. Jana Dörfelt unterschreibt – nicht oft, aber manchmal – mit „Jana Artmann“.
Der österreichische Dichter H. C. Artmann suchte, wie sonst wenige, die Übereinkunft zwischen der Art zu produzieren und der Art sich zu produzieren. Diese strittige Doppelexistenz beabsichtigte das Erhabene mit dem Trivialen zu versöhnen. Es wurde ein Versuch, der einen eigentümlichen Klang in die deutschsprachige Literatur brachte.
Egal wohin Artmann greift, er trifft das Ganze. Artmann nimmt alles in Besitz: die Geschichten und Sagen der österreichischen Indianer, die Hochdichtung der Bäckerinnung, die Mythen der Gosse, den Fleiß der Industrie und den Jargon der Kellner im Café Hawelka.
Aus dem überschaubar-unendlichen Werk des Dichters wählte Jana Dörfelt mit sicherem Instinkt die sparsam-reiche Erzählung „Der handkolorierte Menschenfresser“. Dieser Text steht exemplarisch für das Werk des Meisters und den Meister selbst; Artmann ist ein Menschenfresser. Menschenblut und Menschenfleisch gehören in die Küche des Dichters. Angesichts der monströsen Abschlachtereien des 20. Jahrhunderts kommt die Artmannsche Menschenfresserei tatsächlich anheimelnd handkoloriert daher. Das Schlachten geht hier noch wie zu Vorzeiten; zügig mit scharfem Messer und streng für den eigenen Verzehr bestimmt.Von Kühlhäusern, Transporten und Krematorien ist nicht die Rede.
Artmann, laut Lexikon 1921 geboren, gibt als Geburtsjahr 1621 an. Er ist ein Dichter – wir müssen ihm glauben. Geboren also im 30-jährigen Krieg, hineingeboren in eine menschenfresserische Epoche, wird er Grimmelshausens Kollege und Zeitgenosse des Simplicius Simplicissimus. Er wird Zeuge der Pulverisierung des karolingischen Reiches und der Erfindung Amerikas. Er zieht mit der Boheme, von Böhmen kommend, in alle Richtungen des Windes. Die Wiener Boheme, die Artmann geprägt hat und die von ihm geprägt wurde, hat einen schönen Wahlspruch: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“ Laut Lexikon ist der Meister im Dezember 2000 in Wien gestorben. Nach Artmanns Zeitrechnung war es das Jahr 1700. Bis zur Geburt der europäischen Moderne bleiben noch 89 Jahre.
„Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“ – Davon versteht Jana Dörfelt einiges. Die Zeichnungen zum „Menschenfresser“ machen es sichtbar. Sie hat sich aufgemacht, die Energien ihrer Artmann-Schwäche zu nutzen und unverdrossen Bilder und Zeichen für den „Menschenfresser“ gesammelt und zu Papier gebracht. Dabei wusste sie als kluge Zeichnerin, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, die literarischen Bilder zu materialisieren. Die angebliche Erleuchtung der poetischen Werke durch die Illustration – das zeigen zahlreiche Elaborate der Illustratorengilde – führt schließlich nicht selten zur Verdunklung. Was also kann eine Illustratorin tun, die diesen Konflikt kennt?
„Der handkolorierte Menschenfresser“ erzählt in 31 Kurzkapiteln das aberwitzige Märchen vom weißen Menschenfresser Christenleich und seiner Frau, der riesigen Negresse Susquehannah. Gemeinsam locken sie Damian den fetten Bäckergesellen in ihre zauberische Hütte, um ihn zu schlachten und dann, gut zubereitet, zu verspeisen. Mit hintergründiger Spiellust verknüpft Artmann Märchenbilder, Sprichwörter, Redewendungen und Idiome zu einer komisch-absurden Textcollage. Die Klischees und Versatzstücke der trivialen Gruselgeschichte werden durch die mutwillige Kunst der Artmannschen Montage zu einem phantastischen Bilderteppich verknüpft.
Es ist keine leichte Aufgabe, dieser Erzählung, die sich im Grunde selbst genügt, eine bildnerische Komponente hinzuzufügen. Selbstverständlich lässt sich ein Text dieser Qualität nicht synchron illustrieren. Hier wird eine illustrative Methode benötigt, die die poetischen Schwingungen quasi seismografisch registriert und sichtbar macht. Jana Dörfelt hält sich bewusst aus der linearen Nacherzählung heraus. Sie orchestriert mithilfe von illustrativen Versatzstücken die Klänge, die sie mit feinem Sensorium wahrnimmt Auf den insgesamt 40 Seiten des Menschenfresser-Buches entfaltet sich das figurative Personal der Dörfeltschen Phantasien; skurrile Zeichnungen und absurde Vignetten werden in wechselnden Texturen gruppiert. Im Buch wimmelt es von zeichnerischen Einfällen und Anspielungen. Artmanns Ermutigungen werden lustvoll aufgegriffen, spielerisch übersetzt und mit Leichtigkeit variiert.
Durch die gestalterische Entscheidung, den Text dreispaltig zu präsentieren, zwingt die Illustratorin, die auch als Buchgestalterin auf den Plan tritt, das überbordende illustrierte Personal in die notwendige typografische Ordnung.
Die Kapitelziffern, Teil des illustrativen Arsenals, ordnen das Ganze verlässlich. Die typografischen Elemente werden durch Unterstreichungen, Durchstreichungen und Beifügungen mit den Illustrationen verbunden. Eine primitiv gezeichnete Fraktur bildet die expressiven Auszeichnungstexte und kennzeichnet den Moritatencharakter der hervorgehobenen Elemente. Von Doppelseite zu Doppelseite zwingt die streng ordnende buchgestaltende Hand, die vielfältigen Einzelheiten rhythmisch und kompositorisch in die Disziplin des großen Ganzen.
Jana Dörfelts bildnerische Wortmeldung wird den multiplen Facetten der anspruchsvollen Erzählung gerecht. Ihre erzählerischen primitiv-raffinierten Zeichnungen treffen auf glückliche Weise den primitiv-raffinierten Gestus der Artmannschen Erzählung.
So liefert die vom Blitz Getroffene ihrem, die Herzkammer bewohnenden, Dichter heiter philosophierend einen zeichnerischen Kommentar, der den finsteren Rhythmus und die fröhliche Musikalität seine Erzählung anschaulich trifft.
Was ist aus dieser Geschichte zu lernen? Alles und nichts. Ganz sicher aber eines: Künstler müssen bei Gewitter ins Freie gehen. In der Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms wird sie der Blitz nicht treffen.

Franz Zauleck "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst - Die Illustratorin Jana Dörfelt begegnet dem Dichter H. C. Artmann"
Dieser Text erschien 2010 in den "Marginalien" und ist die überarbeitete Fassung einer Laudatio, die Franz Zauleck am 4. September 2009 in der Berliner Galerie wortwedding gehalten hat. Anlass war die Eröffnung der Ausstellung von Jana Dörfelt „Die Poesie sitzt dazwischen – Zeichnungen zu Artmanns Menschenfresser-Erzählung“
Franz Zauleck hat im Jahr 2007 die Diplomarbeit von Jana Dörfelt betreut.
Eine verkleinerte Version des illustrierten Buches „Der handkolorierte Menschenfresser“ kann direkt bei der Illustratorin (info@janadoerfelt.de) zum Preis von 14 Euro, zuzüglich Versand, bestellt werden. Besuchen Sie die Website von Jana Dörfelt www.janadoerfelt.de

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