Franz ZauleckZaulex.de

8. März 2013: Fordert die Polizei die Papiere, will sie dein Leben sehen oder Ein Computer ohne Drucker ist ein Witz (Nachwort zum Katalog "Papier. Korb. Zeit.")

Am Ende ist alles Papier. Wenn seine Zeit gekommen ist, übernimmt es die sichere Herrschaft. Der Papiertiger besiegt immer den lebendigen. Das farbige warme Leben läuft auf graues kaltes Papier zu. Papier ist geduldig. Papier kann warten. Das Wunder der Geburt wird von der Geburtsurkunde bezeugt. Das letzte Papier ist der Totenschein. Fordert die Polizei die Papiere, will sie dein Leben sehen. Papiere entscheiden über Leben und Tod. Auch im digitalen Zeitalter bleibt es dabei. Ein Computer ohne Drucker ist ein Witz. Alles wird abgestempelt und abgeheftet. Dass die Menschheit ihr Schicksal einem so labilen Datenträger – wasserscheu und brennbar – überlassen hat, ist ein wundersames Paradox . Aber nicht jedes Papier hat auf ewig Macht über uns. Die Ohnmächtigen enden im Papierkorb. Sie haben ihre Rolle gespielt; der Bonbon ist gelutscht, die Zigaretten sind Rauch. Das Papier hat seine Schuldigkeit getan. Das Papier kann gehen.

Der Papierkorb ist ein finsterer Wartesaal. Er ist ein spezieller, meist aus Korbweide geflochtener Sarg. In normalen Körben werden Kohlköpfe, Brennholz, Kartoffeln u. ä. transportiert bzw. gelagert. Normale Körbe stehen gewöhnlich in Ställen und Kellern. Der Papierkorb aber steht mitten im guten Zimmer. Darin wartet das ausgediente Papier auf die sichere Auslöschung. Aus dem Papierkorb gibt es in der Regel kein Entrinnen. Nur manchmal – äußerst selten – greift die Hand eines Kindes oder eines Künstlers in den Korb. Sie hebt ein Papier in die Höhe, hoch hinauf in den Papierschnipselhimmel. (Kinder und Künstler versammeln sich im Verein der Papierschnipselfreunde – ein Verein ohne Satzung, der keine Mitgliedsbeiträge verlangt.) Der Papierschnipselhimmel ist wirklich ein Himmel. Hier darf der Schnipsel erzählen, spielen und mitspielen. Hier hat man Augen und Ohren für ihn, hier wird er Teil eines neuen Ganzen. Hier findet die verletzte Schnipselseele endlich Frieden.

Die Silbe Zeit im Wort Zeitung täuscht über das miserable Verhältnis der Zeitung zur Zeit hinweg. Die Zeitung ist nicht haltbar. Es gibt nichts Älteres, als die Zeitung von gestern Abend. Mit Zeitungen werden Schuhe ausgestopft und wenn es sehr kalt ist, helfen Zeitungen unter dem Pullover gegen Frost. Das können Bücher nicht. Zeitungen sterben wie die Fliegen. Das Wort »Zeitungssterben« hat niemanden wirklich überrascht. Die Verknüpfung von Papierkorb und Zeitung zu einem Wort klingt wie das Zusammentreffen von Sarg und Eintagsfliege.

Die Neue Berliner Papierkorbzeitung ist nicht das Branchenblatt der Berliner Papierkorbproduzenten. Natürlich nicht. In der Papierkorbzeitung bekommen die Papierschnipsel eine Bühne. Sie können noch so abgerissen sein, hier wird ihrer Mitteilung gelauscht. Der Papierschnipsel darf bruchstückhaft erzählen, sein Stottern wird mit Neugier vernommen. Die Papierkorbzeitung liebt das Fragment, den Anlaut und die halbe Geste. Der abgebrochene Satz und der verstolperte Auftritt vermögen naturgemäß mehr mitzuteilen, als der ausgebaute Vortrag oder gar das perfekte Stück. Das große alte Wechselspiel von Irritation und Korrektur beherrscht ein Schnipsel, der durch das Fegefeuer in den Himmel gekommen ist, natürlich perfekt.

Die Papierkorbzeitung kommt aus Berlin. Diese Stadt ist schon wieder oder immer noch zerrissen. Die Trümmer der letzten 100 Jahre liegen überall herum. Alle 25 Jahre reiten tollkühne Prinzen heran und versuchen, die Stadt zu heilen. Immer und immer vergeblich. – »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.« Berlin und der Papierkorb haben verblüffende Ähnlichkeit. Obwohl alles unablässig weggeworfen wird, ist das meiste noch da. Große Brocken und kleine Schnipsel. Wer sich daraus nichts macht, dem ist nicht zu helfen.

Berlin-Lichtenberg am 8. März 2013 Katalogtext für "Papier. Korb. Zeit."

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